Offener Brief an Seine Heiligkeit Patriarch Kyrill von Moskau und der ganzen Rus’

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22.02.2024

Eure Heiligkeit,

nur großer Kummer und ein tiefes Gefühl der Besorgnis über all das, was heute in Russland geschieht, besonders im geistlichen Bereich, zwingen mich, meine christliche Pflicht zu erfüllen und mich mit einem bitteren Wort der Wahrheit an Sie zu wenden. Ich bin überzeugt, dass die Gedanken, die ich in diesem Brief dargelegt habe, nicht nur mich, sondern auch all jene betreffen, die aufrichtig über das Schicksal der russischen Orthodoxie trauern und nach einem Ausweg aus der moralischen Katastrophe suchen, die unser Land erschüttert hat.

Mit Bedauern stelle ich immer häufiger fest, dass das geistliche Leben in Russland zerstört und ausgerottet wird. Die Gebote Christi, das Mitgefühl und die Barmherzigkeit werden durch Hass ersetzt, und die Herzen der Menschen sind mit Zorn statt mit Liebe zu ihren Nächsten erfüllt. Unsere russische Gesellschaft atmet die Druckluft der Angst, Zehntausende von Ehefrauen und Müttern trauern, weil sie in diesen zwei Jahren ihre Söhne verloren haben, aber viele, und das ist für mich besonders schmerzlich, leben in Sünde, in einem militaristischen Rausch, schwelgen im Leid anderer Menschen, freuen sich über Tote und Morde, über Brände, Bomben und Raketen, die auf die friedlichen Köpfe der Ukraine fliegen.

Der Krieg hat auch die Häuser der Russen erreicht und nicht nur das Leben der toten Soldaten, sondern auch das der Bewohner der Grenzgebiete mit sich gerissen. Bürger und Bürgerinnen wissen das alles, aber das ganze Bild der andauernden Verwüstung bleibt ihnen durch den dichten Schleier aus Lügen und Heuchelei verborgen, der ihre Augen verhüllt. Wie jede nicht heilende Wunde verursacht dieser Krieg die Fäulnis unserer Gesellschaft und hat verheerende Auswirkungen auf die orthodoxe Welt als Ganzes und auf die Rolle der russischen Kirche in ihr.

Sollte die russische Kirche jetzt keine Worte sagen? Sollte die Kirche nicht zu den ersten gehören, die die Sünden der Machthaber anprangern und sie auf den Weg der Wahrheit führen? Wir wissen, dass es «keine Obrigkeit außer von Gott», also sollte ein Christ scheinbar nichts gegen die Obrigkeit sagen. Doch weder Christus selbst noch unsere anderen Heiligen scheuten sich, mit und gegen die Obrigkeit zu sprechen.

So wie Johannes der Täufer anprangerte Herodes und Metropolit Philipp von Moskau sich weigerte, russischer Zar Iwan der Schreckliche für seine Gräueltaten zu segnen, hätten Sie sich an die weltlichen Behörden wenden können, um Frieden zu schaffen, wie es auch andere orthodoxe Kirchen und einfache Christen tun. Die «bösen Mächte», von denen Sie in Ihren Predigten sprechen und die der russischen Kirche schaden, gibt es tatsächlich, aber sie kommen aus dem Inneren Russlands und nicht von außen. Eine dieser Kräfte ist die Angst vor der Macht. Aber wir sollten keine Angst vor der Obrigkeit haben, wenn wir sicher sind, dass sie uns zwingt, gottlose Dinge zu tun.

Der heilige Tichon von Sadonsk sagte dazu Folgendes: «Wenn der Herr dir befiehlt, etwas Unrechtes zu tun: zu beleidigen, zu stehlen, zu lügen usw., dann gehorche nicht (höre nicht zu). Wenn er dir dafür mit der Hinrichtung droht, fürchte dich nicht: Fürchte dich nicht vor denen, die den Leib töten, sondern vor denen, die die Seele nicht töten können; fürchte dich aber mehr vor dem, der Seele und Leib in der Gehenna vernichten kann (Matthäus 10,28)». Wir müssen auf Gott hören und dürfen nicht so tun, als wären wir taub und blind. Ist es nicht an der Zeit, dass die Kirche aufhört, sich nach den Launen des Staates zu richten und stattdessen im wahren Interesse der Kirche Christi handelt? Ist es nicht an der Zeit, dass die russische Kirche auf den Weg der Vergöttlichung der Menschen zurückkehrt, anstatt ihrer Entmenschlichung Vorschub zu leisten und sie zu unterstützen?

Ich kann nicht schweigen zu dem, was um die Figur des am 16. Februar in Haft verstorbenen Politikers Alexej Nawalny geschieht. Es schmerzt mich zu sehen, wie Russen, die auf Geheiß ihres Herzens das Andenken des Verstorbenen ehren wollen, mit Gewalt von Seiten der Strafverfolgungsbehörden konfrontiert werden. Noch mehr schmerzt es zu sehen, wie manche Menschen mit einem getrübten Gewissen und einem dumpfen Sündenbewusstsein auf Gedenkstätten herumtrampeln, Blumen wegwerfen, Lampen auslöschen und zerbrechen.

Ist es Ihnen egal, dass ein Pfarrer, wenn auch zu einer anderen Kirche gehört, verhaftet wurde, weil er einfach nur einen friedlichen Gedenkgottesdienst abhalten wollte? Ist es Ihnen auch egal, dass man jetzt nicht nur wegen der berüchtigten «Beleidigung der Gefühle von Gläubigen», sondern auch wegen «falscher» Gebete, etwa für den Frieden oder für die Ruhe eines in Ungnade gefallenen Politikers, mit Geldstrafen belegt wird? Sind dies nicht sündhafte Handlungen, nicht Vorboten der kommenden Gottlosigkeit? Gibt Ihnen das nicht Anlass zur Sorge?

Die Situation mit der Leiche und der Beerdigung Navalnys ist im Grunde genommen eine echte Misshandlung.  Es gibt keinen größeren Kummer für eine Mutter, als die Behörden um die Rückgabe des Leichnams ihres Sohnes bitten zu müssen. An dieser Stelle erinnere ich sowohl an den Prokurator Pilatus, der den Leichnam Christi unmittelbar nach seinem Tod herausgab, als auch an den Patriarchen Tichon von Moskau, der den Bolschewiken vorwarf, dass sie ihren imaginären Feinden «den letzten Trost vor dem Tod» vorenthalten hätten.

«Ist dies nicht der Gipfel zielloser Grausamkeit von Seiten derer, die vorgeben, Wohltäter der Menschheit zu sein», fragte der heilige Tichon damals.

Gleichzeitig möchte ich anmerken, dass der Tod von Alexej Nawalny viele Russen, sogar ehemalige Ungläubige, zu den Tempeln geführt hat. Einige von ihnen sagen, dass sie durch diesen Kummer nicht nur Trost, sondern auch Glauben gefunden haben. Deshalb fordere ich auch Sie auf, den Menschen, die ihren Schmerz auf diese Weise erfahren wollen, keine Steine in den Weg zu legen. Öffnen Sie die Türen der Kirchen und strecken Sie die Hand aus. Kehren Sie auf die Seite des Lichts zurück.

Mit Gebeten für den Frieden 


Ilia Bobrik, russischer Kirchenhistoriker